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Medienkompetenz und Kommunikative Kompetenz

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„Medienkompetenz“ meint, dass Menschen, die sich der Medien (welcher Art auch immer) bedienen, insbesondere auch Kinder und Jugendliche als künftige Bürger unserer Gesellschaft, über Medien und ihre Funktionen Bescheid wissen; dass sie ihre Leistungen kritisch einschätzen können und zu einem begründeten Auswahlverhalten angesichts eines breiten Angebots fähig sind; schließlich wird als Zielwert einbezogen die Fähigkeit, sich selbst (in verschiedenen) Medien und ihren jeweiligen Codes artikulieren zu können. Bescheid wissen über Medien (Medienkunde); kritische Bewertung und begründbares Auswählen von Programmen (Medienerziehung/Medienbildung); Fähigkeit zu medien-aktivem Ausdrucksverhalten (kommunikative Kompetenz) gehören nach dem Konzept von Medienkompetenz also untrennbar zusammen.

Medienkompetenz ist eine Spezialform der allgemeineren „kommunikativen Kompetenz“ des Menschen. Diese meint die im mentalen verankerte Fähigkeit des Menschen, aufgrund eines aktiv-produktiven, äußerst variantenreichen Regelsystems im Bereich von Syntax, Semantik und Pragmatik eine potentiell unbegrenzte Anzahl von Sätzen generieren zu können. Die Sprache vermittelt dem Menschen die Fähigkeit, beliebig viele Gedanken auszudrücken und in beliebig vielen neuen Situationen angemessen zu reagieren. Während Sprache ein vor allem an Diskursivität gebundener Ausdrucks-Code ist, verbinden die (unterschiedlichen) Medien andere Codes, die über die Sprechfähigkeit des Menschen hinausgehen. Angesprochen werden auch die Sehfähigkeit des Menschen, die Hörfähigkeit des Menschen (audiovisuelle Medien) sowie zusammenfassend das kreative Potential neuer Ausdrucksformen über den Körper, aber auch in Simulationen (Multiperspektivität der Sinne).

Insofern ist „Medienkompetenz“, was die Ausdrucks-Codes anlangt, umfassender als die ihr zugrundeliegende Sprachkompetenz. Um so dringlicher ist es, unter „Alphabetisierung“ nicht nur den Spracherwerb zu verstehen oder, in erweiterter Form, die Verfügung über bestimmte Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen), sondern die Vielzahl neuer über die Medien erschlossener Ausdrucks-Codes einzubeziehen, deren Beherrschung ebenso gelernt und geübt werden muss, sich also nicht naturwüchsig ergibt. Neben Sprach- und Sprechförderung tritt also die Förderung menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit, wie sie von den Menschen in erweitertem Maße als gestaltbar vermittelt wird.

Grundsätzlich betrachtet haben damit die Medien das Ausdrucksrepertoire und die Ausdruckschancen der Menschen erweitert. Dies erweiterte Artikulationsrepertoire stellt aber auch zusätzliche Ansprüche. Nicht nur wächst die zeitliche Beanspruchung durch die Expansion solcher sozialkulturellen Codes, sondern die Verschiedenartigkeit ihrer Anwendungsmöglichkeiten sind ebenso zu erlernen, wie es die Fähigkeit zu erwerben gilt, Wahrnehmungs- und Artikulationsmaterial auch jeweils zu selektieren und auszusondern. Wie im Sprechakt Rede und Antwort abwechseln, ist auch „Medienkompetenz“ in der Weise zu verstehen, dass Rezeption und Artikulation nicht getrennt zu denken sind, sondern in ihrer Gesamtheit die Kommunikationssituation ausmachen. Die Entwicklung neuer Medien-Techniken bis hin zu interaktiven Diensten und die neue Möglichkeit der Multi-Media-Integration führen zukünftig zu einem gesellschaftlichen Kommunikationsdesign, in dem der Ausdruck „Massenmedien“ und „Massenkommunikation“ nicht mehr geeignet erscheint. Denn die Publika werden zunehmend heterogener, bestimmen sich nach ihren individuellen Interessen und der Kommunikation und nehmen auch nach diesen die Kommunikationsmodi wahr, die zur Verfügung stehen.

Zwar gilt: Sprechen lernt jedes Kind notwendig im Sozialisationsprozess, in dem es von frühauf von den Eltern „angesprochen“ wird und „erwidert“. Auch die Medien sprechen bereits die Kinder an, ohne ihnen freilich immer Erwiderungschancen einzuräumen. Die unmittelbare Kommunikation wird durch neue Formen ersetzt, die insofern „abstrakter“ (der Wirklichkeit entzogener Art sind), weil (beispielsweise) die im Fernsehen gezeigten Menschen, ihre Dialoge und Handlungen nicht derart sind, dass unmittelbar eingegriffen werden kann. Vielmehr handelt es sich um komplexe Zeichensysteme, die von Produzenten gemacht sind und darum eines spezifischen Schlüssels zu ihrer Entzifferung bedürfen. Der Rückbezug auf die eigene Handlungswirklichkeit sowie die eigene ästhetische Praxis muss jeweils geleistet werden. Insofern stellt „Medienkompetenz“ einen hohen Anspruch, weil sie dazu nötigt, wahrgenommene Zeichensysteme in eigene Handlungs- und Erlebnis-Codes zu integrieren. Dieser „Transfer“ ist der spezifische Anspruch einer „Mediekompetenz“, die sich - wegen der Einbeziehung von spezifischen Übermittlungs- und Ausdruckstechniken - von sprachlicher Kompetenz abhebt.

Die Folgerungen für die Lernpraxis von Menschen sind erheblich: Die im Begriff „Medienkompetenz“ verschlüsselten Wahrnehmungscodes und Wahrnehmungsansprüche begegnen Heranwachsenden zwar lebensweltlich und alltäglich, können aber in ihren Möglichkeiten nur gemeistert und produktiv verwendet werden, wenn geordnete Lernprozesse den Erwerb einer durchaus anspruchsvollen „Medienkompetenz“ fordern und für bestimmte Bevölkerungsgruppen vorrangig ermöglichen, Damit wird „Medienkompetenz“ zu einer Aufgabe für Hochschulen (Ausbildung, Fortbildung), für Schulen (grundlegendes Lernen), aber auch bereits Vorschuleinrichtungen, Familien (grundlegendes Lernen). Es bedarf dringend entsprechender Programme, Medienkompetenz in allen diesen Bereichen zu vermitteln. Gelänge dies, würden Mitglieder moderner Gesellschaften nicht nur intellektuell und politisch, sondern auch sozial und kulturell profitieren und einen größeren Reichtum an Lebensformen gewinnen.

Dieter Baacke, Bielefeld - März 1995

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